Grenzland–Niemandsland

Joachim Giesel, Gaststätte ‚Grenzblick‘ in Offleben (aus der Dokumentation Grenzland–Niemandsland), Offleben in Niedersachsen, 1984.

Die Temperaturen sind um den Gefrierpunkt. Kein Mensch nirgendwo. Nur ein blauer Opel Rekord ist im Schneematsch hinter einem heruntergekommenen Gasthaus am Straßenrand auszumachen, das den seltsamen Namen Grenzblick trägt. Offenbar hat es schon länger geschlossen und man bekommt dort kein Gilde Pilsener mehr, so wie der Zigarettenautomat nicht mehr in Funktion ist. Und auch die Straße führt nicht weiter, denn Sperrschilder verhindern die Weiterfahrt. Auf den zweiten Blick erkennt man dahinter Stacheldrahtzäune, Panzersperren und Warnschilder „Halt hier Grenze“. In einer seiner typischen Fluchtpunktperspektiven lässt Giesel seine graugraue Komposition in einem Wachturm enden. Er hat uns nach Offleben geführt. An die deutsch-deutsche Grenze nahe Helmstedt. Nach Kriegsende besteht sie zunächst nur aus einem Schlagbaum, mit dem der „Kleine Grenzverkehr“ geregelt wird, doch im Mai 1952 wird sie geschlossen, um eine militarisierte Sperrzone zu errichten. Damit endet die Barnberger Straße im Niemandsland. Das Gasthaus ist Relikt eines bizarren Grenztourismus, im Zuge dessen bis 1989 jährlich über 1,5 Millionen Menschen die 1.400 Kilometer lange Grenze besuchen (1965 sollen es 50.000 in Offleben gewesen sein). Fünf Jahre nachdem Giesel in Offleben gewesen ist, fällt die Mauer. Am 2. Februar 1990 eröffnen die Bürgermeister von Offleben und Barneberg den Übergang an der Barneberger Straße, wo sich bereits ein Stau von Ost nach West gebildet hat. Heute erinnern eine Informationstafel und ein Denkmal an einst. Deutschland ist unteilbar.

Martin Schieder

Zusatzmaterial

Wolfgang Roehl, Grenzöffnung Barneberg, Sachsen-Anhalt (DDR) – Offleben, Niedersachsen (BRD), 2. Februar 1990. (Quelle Archiv Roehl, https://www.wolfgangroehl.de/Grenzoeffnung/Grenzoeffnung_S01b.htm)