Konrad Adenauer – der Erneuerer. Ludwig Erhard – der Mann des Wirtschaftswunders. Kurt Georg Kiesinger – der Vermittler. Willy Brandt – der Niederkniende. Helmut Schmidt – der Macher. Helmut Kohl – der Wiedervereiniger. Gerhard Schröder – der Reformer. Als Inhaber des mächtigsten politischen Amtes prägen alle Bundeskanzler mit ihrem Führungsstil, ihrer Persönlichkeit und ihrer Regierung maßgeblich die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis heute. Giesel hat sie (fast) alle fotografiert. Seine Kanzlergalerie ist Zeugnis einer außergewöhnlichen Karriere. Bereits sein erster Auftrag bei der Hannoverschen Presse führt ihn in den Wahlkampf, als Brandt 1961 als Kanzlerkandidat der SPD für die Bundestagswahl durch Niedersachsen tourt. Giesel soll ihn dabei begleiten und fotografieren. Zufrieden mit dem Resultat, schickt ihn die Redaktion zu weiteren politischen Veranstaltungen, wobei unter anderem ein Porträt von Adenauer entsteht. Nachdem Giesel sich 1966 selbständig macht, nimmt er weiterhin Aufträge von der Hannoverschen Presse, aber auch von der Bundesgeschäftsstelle der CDU in Bonn an. Ein Höhepunkt in Giesels Laufbahn sind die Porträts von Kohl und Schröder – er hat es bis ins Kanzleramt geschafft! Nur Angela Merkel und Olaf Scholz sind von ihm nicht porträtiert worden. Kanzler und Medien teilen ein ambivalentes Verhältnis der gegenseitigen Abhängigkeit. Zeitung, Rundfunk und vor allem seit Mitte der 1960er Jahre das Fernsehen sind die einflussreichen Leitmedien der Bundesrepublik. Sie dienen den Kanzlern als Sprachrohr zur Öffentlichkeit und als Bühne für ihr Image. Giesels Porträts dokumentieren auf subtile Weise diesen Wandel des Wechselverhältnisses zwischen Medien und Politik in der Bundesrepublik. Als Adenauer an einer ihm zujubelnden Menschenmenge vorbeifährt, fotografiert ihn Giesel aus dem Pressewagen, der der Kanzlerlimousine folgt. Die Presse folgt dem Kanzler. Die Hand von Adenauer zum Gruß gehoben, wird bei Brandt zur erhobenen Faust. Schröder dagegen lehnt lässig an seinem Schreibtisch; es könnte das Titelbild der Wirtschaftswoche sein. Eine Funktion des Herrscherporträts ist die Demonstration politischer Macht. Dieser Strategie folgt auch das Porträt des Bundeskanzlers. An der Spitze der Exekutive stehend, bestimmt er die Richtlinie der Politik und im Verteidigungsfall über die Streitkräfte. Sein Herrscherkostüm ist der gedeckte Anzug – bei Giesel tragen alle einen. Zugleich visualisiert Giesel in seinen Kanzlerporträts Macht auf unterschiedliche Weise: Wenn Erhard jovial das Kognakglas zur Eröffnung der Hannover-Messe hebt, wenn Kiesinger vor zahlreichen Fernsehmikrofonen steht, wenn Kohl ein Notizbuch mit der Telefonnummer Gorbatschows in der Hand hält. Im Porträt von Schmidt offenbart sich jedoch auch die Kehrseite von Macht: Die Einsamkeit der Entscheidung in Krisenzeiten. Mittels der Fotografie hat Giesel eine eindrucksvolle Kanzlergalerie geschaffen – im Bundeskanzleramt sind alle bisherigen Bundeskanzler mit einem Gemälde verewigt.
Konrad Schopplich