Joachim Giesel, Porträt Wolfgang B. (aus der Serie Verrückt nach Ilten), Ilten (Sehnde), 1998.
Dr. Wolfgang Becker, 49
„Mein Vater war Arzt, und so wurde mein Interesse für medizinische Berufe schon sehr früh geweckt. Doch ich habe von der Pike auf gelernt, erst Krankenpflegehelfer, dann Krankenpflege und dann das Medizinstudium. Während meiner Ausbildung und der praktischen Arbeit hat mich vor allem die Erfahrung beeindruckt und nachhaltig geprägt, wie wichtig – neben fachlichem Wissen – das Zuhören, die Ansprache, die Anteilnahme, das Dasein den Kranken beim Genesungsprozess sind. Und dann diese Ernüchterung zu Beginn des Medizinstudiums! Man beschäftigte sich mit Organzellen, mit biochemischen Prozessen, mit dem Erlernen der Fachsprache, und der Mensch war völlig in den Hintergrund geraten. Durch diese Zeit habe ich mich regelrecht durchbeißen müssen, und erst in einem fortgeschrittenen Studium des Medizinstudiums konnte ich wieder das finden, wonach ich gesucht hatte: den Menschen. Psychatrie und Psychosomatik faszinieren mich besonders. Hier war der Mensch im Mittelpunkt, seine Biografie und soziale und familiäre Vorgeschichte; nicht nur sein gebrochenes Bein, sein defekter Darm oder seine lädierte Leber, wie ich es bei meiner Arbeit in der chirurgischen Ambulanz erlebt hatte. Für mich war klar: Ich wollte Psychiater werden, ich wollte Menschen mit geistig-seelischen Problemen behandeln, beraten und begleiten. Kein anderer medizinischer Beruf weist so viele Facetten auf wie dieser. Bei keinem anderen sind die Arbeitsfelder so breit bestreut. Man kann in einer niedergelassenen Praxis arbeiten, in einem Krankenhaus, in Forschung und Lehre, im staatlichen Gesundheitswesen, in Rehabilitationseinrichtungen und vielen anderen Institutionen. Das Zusammenspiel von biologischen, psychologischen und rehabilitativen Therapien ist in keinem anderen Bereich so zwingend notwendig wie in der Psychiatrie. Sechs Jahre habe ich in der Psychiatrischen Abteilung der MHH gearbeitet, und dort den Facharzt in Psychiatrie und Neurologie gemacht, und ich habe jeden Tag auf Neue erfahren, wie spannend und abwechslungsreich das Fach Psychiatrie ist. Einfach deshalb, weil es um den ganzen Menschen geht, um den Menschen in seinen vielen Eigenheiten, Erfahrungen und Unterschiedlichkeiten. Heute ist die Psychiatrie aber auch deshalb so aufregend, weil gerade in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten so viel Neues entdeckt und entwickelt worden ist. Es wurden neue Zusammenhänge und Funktionsweisen des Gehirns nachgewiesen und für die Zukunft ist zu erwarten, dass sehr vielversprechende und neuartige Behandlungsweisen entwickelt werden. Die künftige Psychiatrie wird gekennzeichnet sein durch eine fachübergreifende Integration unterschiedlicher Bereiche, der Pharmakologie und Neuropsychologie, der Gentechnologie, Informatik, Kommunikationswissenschaft, Psychologie, Philosophie, Anthropologie und anderen mehr. Mithilfe der Psychiatrie wird man zu einem besseren Verständnis des Zusammenwirkens von Hirnfunktionen, psychischen und körperlichen Vorgängen gelangen und somit den Menschen und das was ihn steuert und wie dies geschieht besser verstehen lernen. Doch egal welche hochkomplizierten Entwicklungen die Psychiatrie nehmen wird, immer wird der Mensch in seiner Komplexität im Mittelpunkt stehen – so wie ich es mir schon während meiner Ausbildung für meine zukünftige Arbeit immer gewünscht habe.“
Freundlich und aufmerksam blickt Dr. Wolfgang Becker aus der Fotografie, als würde er sein Gegenüber dazu einladen, auf dem Stuhl an der anderen Tischseite Platz zu nehmen. Mit der Linken hat der Facharzt für Psychiatrie eine Akte geöffnet, die vor ihm liegt. Mit der Rechten hält er einen Kugelschreiber und stützt seinen Kopf ab, so als würde er über die Person ihm gegenüber nachdenken, um ein paar Notizen auf dem leeren Blatt zu machen. Mit einem Mal befinden wir uns in einer unerwarteten Rolle – in der von Beckers Patient⁎innen. Womöglich ist es unsere Akte, die vor ihm liegt? Den Psychiater und den Fotografen verbindet ein gemeinsames Interesse: Beide stellen den Menschen in den Mittelpunkt ihres Arbeitens. Becker geht es „um den ganzen Menschen, um den Menschen mit seinen vielen Eigenheiten, Erfahrungen und Unterschiedlichkeiten,“ wie der Leiter des Klinikums in seinem Kommentar Der Mensch im Mittelpunkt – Faszination Psychiatrie erklärt, der neben dem Porträt abgedruckt ist. Wie in fast allen Werken Giesels steht der Mensch auch in Verrückt nach Ilten im Fokus. Ihm geht es darum, wie er im Kommentar Vorurteile und Einsichten ausführt, das Leben psychisch kranker Menschen, deren Gefühle und Gedanken zu visualisieren. „So können sie sich ‚selbst-bewusst‘ präsentieren, und ihre Fotos werden so zu einer Selbstdarstellung“. 2006 nimmt Giesel Becker noch einmal auf: Dieses Mal liegt vor ihm ein Exemplar von Verrückt nach Ilten. Hinter ihm hängt ein blaues abstraktes Gemälde. Es könnte von Joachim Rummler sein.
Farina Kolbe