„Der Mensch wird an der Gruppe zum Ich; ohne Gruppe hätte das Individuum keinen Widerhall, keinen Wirkungskreis und keinen historischen Bestand.“
Inspiriert von den Schriften des Psychoanalytikers Raymond Battegay, schafft Joachim Giesel zwischen 1970 und 1979 die Serie Der Mensch in der Gruppe, die aus über 100 Gruppenporträts besteht. Dabei interessieren ihn sowohl individuelle als auch soziale Eigenschaften, welche Menschen in einer Gruppe zusammenkommen lassen – seien es Beruf, Glaube oder Hobbys, aber auch sexuelle Orientierung oder soziale Stigmatisierung. Neben einer Gruppe Sargträgern, Fließbandarbeiter*innen, Foto-Modellen, Schlachtern und Dock-Arbeitern umfasst die Serie auch eine FKK und eine Weight-Watcher-Gruppe. Giesels Inszenierungen von Ort, Attribut und Kostüm verwandeln das Individuum zum Menschen in der Gruppe.
Meist entstehen die Fotografien im Rahmen auftragsgebundener oder privater Termine, bei denen Giesel die Menschen in einem typischen Kontext darstellt: Fleißbandarbeiter*innen in der Fabrik, Dock-Arbeiter am Hafen. Sie werden in präzisen Kompositionen inszeniert, auch wenn der Fotograf selbst betont, seine Aufnahmen seien nicht gestellt. Seine Gruppenporträts sind gleichermaßen eine sozialfotografische Dokumentation wie soziologische Studie der westdeutschen Gesellschaft der 1970er Jahre. So dokumentieren etwa die Fotografien einer Travestie-Gruppe oder von Homosexuellen Giesels Auseinandersetzung mit Gruppierungen am Rande der Gesellschaft.
Giesel stellt sich bewusst in die Tradition von August Sander. Dessen ikonische Langzeitdokumentation führt Menschen des 20. Jahrhunderts in 45 Mappen zu sieben Gruppen zusammen, die gleichsam einen sozialen Querschnitt der Weimarer Republik beschreiben: Der Bauer, Der Handwerker, Die Frau, Die Stände, Der Künstler, Die Großstadt sowie Die letzten Menschen. Sander hat „keine Menschen, sondern Typen fotografiert. Menschen, die so sehr ihre Klasse, ihren Stand, ihre Kaste repräsentieren, dass das Individuum für die Gruppe genommen werden darf“, so Kurt Tucholsky 1930.
Bei Giesels Mensch in der Gruppe hingegen steht nicht die Zugehörigkeit des Menschen zu einer „Klasse“ oder zu einem „Stand“ im Fokus, sondern der Mensch als soziales Wesen. Wie in keiner anderen Serie wird deutlich, dass der Mensch das zentrale Motiv in Giesels Œuvre ist.
„Mich interessieren die gemeinsamen, zufälligen Äußerlichkeiten, die die Gruppenzugehörigkeit demonstrieren. […] Es ist meine Absicht, dem Betrachter die Stellung des einzelnen in der Gruppe, seine speziellen Charaktereigenschaften, Temperamente, Lebensumstände, Neigungen und Fähigkeiten aufzuzeigen und die Motive der Zugehörigkeit zur Gruppe zu diskutieren.“