Es ist Frühsommer in Hannover 1961. In einem Büro der Hannoverschen Presse sitzt der zwanzigjährige Joachim Giesel, der kürzlich seine Gesellenprüfung zum Fotografen bestanden hat. Wenige Monate zuvor hat die Zeitung eine Fotoredaktion eingerichtet, bei der er sich auf Empfehlung des Journalisten Hans Rohrberg erfolgreich bewirbt. Diese erste Festanstellung bedeutet für den talentierten Nachwuchsfotografen und Familienvater nicht nur ein gesichertes und stetiges Einkommen. Der Einstieg in die Pressefotografie bildet zugleich den Auftakt einer jahrzehntelangen erfolgreichen und abwechslungsreichen Karriere als Bildjournalist. Was Giesel nach Beginn des Arbeitsverhältnisses am 1. Juni sofort spürt, ist der Leistungsdruck, der nicht zuletzt auf der deutlich geringeren Berufspraxis im Vergleich mit den bereits in Hannover etablierten Fotoreporter*innen gründet. Doch mit seiner unkonventionellen, frischen Art des Fotografierens begegnet er Vorurteilen gegenüber seines jungen Alters und macht sich unter seinen erfahrenen Kolleg*innen schnell einen Namen. Um sich von der Konkurrenz abzuheben, folgt Giesel der Devise „Alles anders als alle Anderen“, die er bis heute als Leitgedanken seiner Arbeit bezeichnet. Häufig kommt er als erster und geht als letzter. Wenn es nötig ist, an fremden Wohnungstüren zu klingeln, um so den besten Blick auf das Geschehen zu erhalten, tut er das. Er selbst sieht sich in erster Linie als Beobachter. „Ich möchte nicht eingreifen, ich beobachte und lasse geschehen“, umschreibt er seine pressefotografische Praxis. Die Qualität einer Fotografie teilt er nicht nach dem klassischen Bewertungsschema in „gut“ oder „schlecht“ ein. Für ihn gibt es nur das „richtige“ oder das „falsche“ Bild. Wichtig ist, dass es authentisch ist und die beabsichtigte Wirkung erzielt. Schon bald bekommt er neben kleineren Aufträgen schnell drei bis vier Reportagen pro Woche zugewiesen. Deren Spannweite ist dem Profil der Zeitung entsprechend breit gefächert und führt ihn an die verschiedensten Orte: Von Berichten über lokale Feuerwehreinsätze oder das Zeltlager evangelischer Pfadfinderinnen bis hin zu internationale Aufmerksamkeit erregenden Ereignissen wie dem Grubenunglück von Lengede oder der Überführung des Leichnams von Benno Ohnesorg durch die DDR in die Bundesrepublik. Seine Fähigkeiten werden auch von seinem Arbeitgeber geschätzt. So wird er anlässlich des Besuchs von Queen Elizabeth II. in Hannover eigens von einem Lehrgang aus Hamburg zurückbestellt, um das Großereignis für seine Zeitung zu fotografieren. Fünf Jahre arbeitet Giesel als Festangestellter für die Hannoversche Presse, bis 1966 mit der Selbständigkeit ein neues Kapitel seiner Karriere beginnt. Als freier Fotograf bleibt er dem Tätigkeitsfeld des Berufsjournalisten jedoch treu und arbeitet weiterhin frei für die Presse, darunter für große Blätter wie dem Stern oder Der Spiegel.
Jonathan Fulda