Joachim Giesel, Boléro, Hannover, 1990.
Das Orchesterstück Boléro (1928) von Maurice Ravel zeichnet sich durch eine sich allmählich steigernde Intensität aus, die sich in einem Crescendo bis zum Höhepunkt entfaltet. Ebendiese dynamische Entwicklung und Spannung spiegeln sich im Sprung der deutsch-spanischen Tänzerin und Ballettmeisterin Sonia Santiago wider, den Joachim Giesel in einer Langzeitbelichtung fotografisch festhält. Im völlig verdunkelten Studio betätigt der Fotograf den Auslöser. Seine Kamera ist so eingestellt, dass sich der Verschluss der Kamera nicht automatisch schließt, sondern geöffnet bleibt. Santiago springt und führt den Sissone fermée in Perfektion aus. Am höchsten Punkt betätigt Giesels Assistenz unweit der Tänzerin einen kleinen Kunstlichtblitz, sodass die Bewegung der Tänzerin in dieser Position scharf erscheint. Santiago landet – ein zweites Mal wird der Blitz ausgelöst, wodurch sich ihr Gesicht scharf auf dem Film abzeichnet. Jetzt schließt Giesel das Objektiv – der Verschluss war insgesamt zwei Sekunden geöffnet. Durch diese lange Belichtungszeit überlagern sich die Bewegungen der Tänzerin auf dem Foto dreifach. Erst nach dem Entwickeln der Fotografien wird zu sehen sein, ob die Kamera richtig eingestellt gewesen ist. „Der Tanz braucht den Fluss. Ohne Kontinuität im Raum und Zeit kann er sich nicht entfalten. Er ist tendenziell randlos. Die Fotografie aber muss dem Randlosen Grenzen setzen“, beschreibt Isabell Drexler den Dialog zwischen Tanz und Fotografie.
Emilia Pfeiffer