Grenzland–Niemandsland

Joachim Giesel, Grenze bei Kaiserwinkel (aus der Dokumentation Grenzland–Niemandsland), Landkreis Gifhorn in Niedersachsen, 1980.

Es ist ein sommerlicher Tag in der Provinz. Die Sonne wirft bereits lange Schatten und eine schneeweiße Gänseschar watschelt über eine menschenleere Straße, die hinter einer heruntergekommenen Gastwirtschaft in einer scharfen Rechtskurve mündet. Nach links ging es einmal in den Nachbarort – nach Jahrstedt. Doch ist nun der Weg dorthin versperrt: „Achtung Grabenmitte Grenze“, ist auf einem Schild an der linken Straßenseite zu lesen. Und auch geradeaus geht es nicht mehr weiter. Wir sind kurz vor Kaiserwinkel in Niedersachsen. Dem letzten Ort im Westen. Wie in zahlreichen westdeutschen Ortschaften entlang der innerdeutschen Grenze ist auch Kaiserwinkel zum Ziel des sogenannten „Grenztourismus“ geworden. Für den neugierigen Fremden, der die Grenze nur aus den Medien kennt, erscheint das Alltagsleben hier gleichsam als Attraktion. Doch „nur für Fremde idyllisch“, schreibt der Stern, in dem Joachim Giesels Fotografie 1983 veröffentlicht wird. Kritisch geben dort Ortsansässige zu Kommentar, es sei nicht so, „als lebe man hinter dem Mond“. Als Giesel 2012 mit einem Kamerateam des NDR nach Kaiserwinkel reist und genau an derselben Stelle erneut ein Bild aufnimmt, ist die vermeintliche Idylle am Ende der Welt Geschichte. Seit zwei Jahrzehnten ist die Grenze wieder offen, die Warnschilder längst demontiert, die Straße nach Jahrstedt wieder befahrbar und die Gänse sind dem Auto gewichen. Die Gaststätte ist ebenso verschwunden wie die Grenzlandtouristen, über die man sich hier einst beklagte. Die Provinz ist wieder bloß Provinz.

Marietta Mann