Joachim Giesel, Porträt Kurt Georg Kiesinger, Tübingen, 1976.
1976 erhält Joachim Giesel von der Bundesgeschäftsstelle der CDU den Auftrag, die wichtigsten Politiker der Partei zu porträtieren. Als letzter Kanzler der CDU gehört Kurt Georg Kiesinger selbstverständlich dazu. Der Fototermin findet in Kiesingers Wohnung statt. Wie bei einem Studioporträt hängt Giesel einen neutralen Hintergrundkarton zwischen zwei Stativen auf, positioniert die Leuchten und baut seine Hasselblad auf. Dann bittet er Kiesinger vor die Kamera. Insgesamt verbraucht er vierzehn Mittelformat-Filme sowohl in Schwarz-Weiß als auch in Farbe – eine stattliche Menge. Doch Giesel fotografiert Kiesinger in nur vier unterschiedlichen Settings. Das erste zeigt Kiesinger vermeintlich bei einer Rede. Dazu hat Giesel fünf Mikrofone aufgestellt, darunter eines der Tagesschau. Kiesinger trägt einen grauen Anzug, unter dem eine Krawatte hervorsticht. Die Szene soll wie eine Fernsehansprache wirken. Die Vorgabe kommt von der Bundesgeschäftsstelle. Doch was auf dem Papier als Inszenierung der politischen Macht gedacht ist, offenbart sich in der fotografischen Realität als banale Fiktion, womit sich Giesel nicht zufriedengeben kann. Er möchte Kiesinger nicht als Politiker, sondern als Menschen zeigen. Anstatt der Mikrofone wird ein Stuhl vor die Kamera gestellt. Den rechten Arm auf die Lehne gestützt, die Knöpfe des Anzugs geöffnet und die Brille in den Händen, blickt Kiesinger nun in die Kamera. Die Bundesgeschäftsstelle verwirft ihr Konzept und entscheidet sich für den sitzenden, für den nahbaren Kanzler.
Konrad Schopplich