Grenzland–Niemandsland

Joachim Giesel, Verfallendes Hotel in Wittingen (aus der Dokumentation Grenzland–Niemandsland), Wittingen in Niedersachsen, 1980.

„Von 1884 bis gestern war dieses Gebäude in Wittingen im Kreis Gifhorn ein feines Haus, bis 1918 als ‚Parkhotel‘ sogar ein nobles Quartier. Der Besitzer hinterließ es je zur Hälfte seinen zwei Söhnen. Einer von ihnen verkaufte seinen Teil an eine Brauerei; der neue Eigentümer ließ ihn verkommen. Vor kurzem kam die Abrissverfügung, und der Flügel rechts vom Balkon wurde abgerissen. Die Bundesrepublik endet nach zwei Kilometern gleich hinter der Stadt.“ Mit dieser Bildunterschrift erschien Joachim Giesels Fotografie 1983 in dem Artikel Kurz vor der Schmerzgrenze im Magazin Stern. Willies Hotel besitzt 1899 einen eigenen Park und einem Musikpavillon. 1884 errichtet, erstrahlt das Gebäude in einem schlichten Neoklassizismus. Ein Mittelrisalit mit Frontispiz gliedert den Holzbau in zwei Flügel. Es ist eines der Wahrzeichen der Stadt. Als Giesel 1980 das Hotel fotografiert, ist es ein Lost Place. Einstiger Glanz ist verschwunden, die Situation wirkt trist, nahezu unheimlich. Der rechte Flügel wird von Balken gesichert, viele Fenster sind zerbrochen, die Farbe vergilbt. Dennoch scheint das Gebäude bewohnt, wie Gardinen, Geranien, ein frischer Lackanstrich und ein geöffnetes Fenster erkennen lassen. Im Rahmen seiner Dokumentation Grenzland–Niemandsland reist Giesel zwei weitere Male im Abstand von 16 Jahren nach Wittingen und schafft so eine Chronologie bis in die Gegenwart. Das ehemalige Hotel steht bis heute am östlichen Rand der Stadt. Der Hotelpark existiert nicht mehr – einzig der Name der Parkstraße erinnert daran.

Konrad Schopplich

Zusatzmaterial