Verrückt nach Ilten

Joachim Giesel, Porträt Lucia S., 2003. Aus der Serie Verrückt nach Ilten.

In Ilten, ganz in der Nähe von Joachim Giesels Heimatstadt Hannover, befinden sich zwei Abteilungen des psychiatrischen Klinikums Wahrendorff. 1862 von Ferdinand Wahrendorff gegründet, sollten psychisch kranke Menschen hier nicht mehr hinter hohen Mauern von der Gesellschaft isoliert und diskriminiert, sondern medizinisch versorgt und in das gesellschaftliche Leben integriert werden. Für Matthias Wilkening, der von 1993 bis 2023 das Klinikum leitete, bedeutet „moderne Psychiatrie“, zu verstehen, „wo die Fähigkeiten des Patienten stecken, welche Talente man fördern kann und nicht in erster Linie nach den Defiziten des Patienten [zu] suchen.“ Giesel begleitet Patient*innen und Mitarbeiter*innen über zwei Jahrzehnte hinweg mit seiner Kamera. Seine Fotografien werden vierteljährlich im Klinikmagazin is‘ ja ilten! veröffentlicht, dessen Titel auf die Besonderheit des Ortes verweist, indem er anders und verrückt (engl. ill) klingt. „Geh doch nach Ilten!“, hieß es früher in Hannover, wer einen Mitmenschen für verrückt erklären wollte. Zusammen mit der Journalistin Eva Holtz entwickelt Giesel das Konzept für eine Publikation, die 2003 im Wara-Psychiatrie-Verlag erscheint. Auf den ersten Blick verrät das klinisch weiße Ringbuch im quadratischen Format nichts von dem fotografischen Projekt. Doch schlägt man es auf, erwarten einen 76 Schwarz-Weiß-Porträts von Patient*innen und Mitarbeiter*innen, ohne dass diese als solche benannt oder in der Darstellung unterschieden werden. Alle halb beziehungsweise ganzseitig porträtierten Personen werden stattdessen nur mit Namen und Alter vorgestellt. Unter die Fotografie sind jeweils ein persönlicher Kommentar sowie ihre handschriftliche Unterschrift gesetzt. Schaut man in illustrierte Presseberichte zur Entstehungszeit der Serie, so zeugen diese häufig noch von stereotypen Vorstellungen und Unkenntnissen über psychisch kranke Menschen, die Ängste und Vorurteile schüren. Giesel hingegen fotografiert seine Modelle in ihrer persönlichen Umgebung, umgeben von ihren Lieblingsobjekten ihren Tätigkeiten und Hobbys nachgehend, und führt uns ihre Emotionen zwischen Freude, Trauer und Ärger vor Augen. Seine Porträts wollen nicht die vermeintliche Abweichung von der gesellschaftlichen Norm und die Krankheit der Dargestellten dokumentieren, vielmehr dienen sie der (Selbst-) Darstellung der Fotografierten. So erklärt sich Lucia Simmt zu „Deutschlands Königin“, Michael Spiehs ist stolzer Hannover 96-Fan, während Joachim Rummler sich als Künstler vorstellt. Giesel lässt uns an ihren Momenten teilhaben und mahnt in seinem Essay: „In unserer Gesellschaft, in der jeder vor allem nach seiner Stellung im ökonomischen Gefüge definiert wird, sind alle benachteiligt, die außerhalb stehen. […] Mit diesem Bildband, durch die Konfrontation zwischen Porträtierten und Betrachtern, möchte ich dazu beitragen, Vorurteile in Einsichten zu verwandeln.“

Farina Kolbe