Moskau

Joachim Giesel, Waganowa-Ballettakademie, Sankt Petersburg, 2. Oktober 1991.

Auch in Rußland läßt Joachim Giesel seine Begeisterung für Ballett und Tanz nicht los. Nachdem er in Moskau im Bolschoi-Theater eine Schwanensee-Inszenierung und im Puppentheater eine Don Juan-Aufführung besucht hat, erwartet ihn in Sankt Petersburg eine der angesehensten Ballett-Schulen: „Yana Adelson wird uns vorgestellt. Fährt mit Achim und mir in die Vaganova-Ballet-Akademie. Marina Vivien, Kuratorin des Museums, erzählt uns die Geschichte der Schule“. Giesel nutzt die Gelegenheit, um im Übungsraum einige Aufnahmen zu machen. Auf einem Photo posiert ein etwa zehnjähriges Mädchen im schneeweißen Tutu kerzengerade in der Vierten Position – die Beine sind geschlossen übereinander gekreuzt, wobei die Ferse des einen Fußes parallel zum großen Zehgelenk des anderen ausgerichtet ist. Während es den Photographen fixiert, beobachtet an der Ballettstange eine Mittänzerin die mise en scène. So wie die Balletteuse einer strengen Choreographie folgt, hat Giesel seine Komposition bis ins Detail durchdacht. Es gibt noch einen zweiten eyecatcher auf dem Photo: An der Wand hängt ein Porträt von Marina Semyonova, das vom russischen Maler Alfred Eberling 1940 im Stile der sowjetischen Salonmalerei gemalt wurde. Es zeigt die legendäre Primaballerina bei einer Modellsitzung im Atelier des Künstlers, wobei Anklänge an Darstellungen von Degas unverkennbar sind. So wie Semjonowa die erste große, von Agrippina Vaganowa ausgebildete Tänzerin war, träumt das Mädchen von einer Karriere auf den Bühnen der Welt. Der erste Tanzschritt ist geschafft – sie steht vor der Kamera von Joachim Giesel.

Martin Schieder