Grenzland – Niemandsland

Kurz vor der Schmerzgrenze war der Titel des Beitrages der 20. Ausgabe des Stern 1983, der acht Fotografien von Joachim Giesel zeigte. Zwischen 1965 und 1989 reiste der Fotograf immer wieder an die innerdeutsche Grenze, in das sogenannte Zonenrandgebiet. Dort dokumentierte er aus westdeutscher Sicht in einer Vielzahl von Aufnahmen das Aussterben einst besiedelter Gebiete. So zeigen die Motive verfallene Gutshöfe, stillgelegte Gleise, von Unkraut übersäte Felder, gesperrte Straßen, geschlossene Fährhäfen sowie Wachposten, Zäune, Grenzen und Grenzübergänge. Giesel hielt in seinen Fotografien das Veröden einstbestehender Verbindungen fest: landschaftlich wie politisch. Denn die innerdeutsche Grenze trennte auch Menschen voneinander. In einer Aufnahme, die 1982 in Kaiserwinkel entstand, ist dies eindrücklich festgehalten. Die Straße, die das Dorf mit dem nahegelegenen Jahrstedt auf der Ostseite verband, ist nun gesperrt und durch einen Graben gesichert. Dort wo ein Mensch nicht passieren durfte, wo Familien voneinander getrennt wurden, überquert eine weiße Gänsefamilie die Trennungslinie.

Im Rahmen der Ausstellung im Museum für Photographie in Braunschweig: Schöne Neue BRD? Autorenfotografie der 1980er Jahre (2014) ordnet Gisela Parak Joachim Giesel’s Arbeiten als eine von zehn wichtigen Positionen der „Autorenfotografie“ ein. Im Sinne des von Klaus Honnef geprägte Begriffs beschreibt Parak die Autorenfotografie als „ein einprägsames Label für die neue fotografische Ausrichtung der 1980er Jahre (…), das als von subjektiver Sichtweise und emotionaler Befindlichkeit des Fotografen geprägte Auseinandersetzung und Darstellung gesellschaftlicher und politischer Thematiken zu verstehen ist und das gleichzeitig an eine neue Verantwortung des Fotografen für den Inhalt und den Umgang mit der Fotografie appelliert“ (Parak 2014, o. S.). Die Serie der Grenzgebiete von Joachim Giesel führe „eindringlich die Teilung Deutschlands und die Auswirkung der militärischen Abriegelung des Grenzstreifens auf die angrenzenden dörflich-bäuerlichen Kulturlandschaften vor Augen. In den nunmehr als Sackgasse endenden Ortschaften hält die Serie Trostlosigkeit, Isolation und Niedergangstimmung der durch die Grenzlage in der Bedeutungslosigkeit versunkenen Ortschaften fest, die im starken Kontrast zur idyllischen Anmutung der in Farbe gefassten Landschaften steht“ (Parak 2014, o. S.).

Giesel’s Fotografien waren 1980 in der Fotogalerie der Landesbildstelle in Hamburg zu sehen und Teil einer weiteren Ausstellung im Museum für Photographie in Braunschweig im Jahr 2015: Das regionale Gedächtnis. Zusammen mit Dieter Bub und einem Kamerateam des NDR reiste der Fotograf im Jahr 2012 an der ehemaligen Grenze zwischen Lübeck und Hof entlang und erinnert sich (Nordstory, Grenzgeschichten). Im Rahmen dieser Reise nahm Giesel dieselbe Kameraposition wie vor der Grenzöffnung ein und schuf so eine Chronologie des Zonenrandgebiets von den 1960er Jahren bis in die Gegenwart.

 

RLG

1980 Hamburg, Foto-Galerie der Landesbildstelle: Grenzland-Niemandsland?

1987 Eislingen, Kunstverein: Joachim Giesel. Grenzlandschaften und Menschengruppen

2004 Hannover, Handwerksform: Der Fotograf Joachim Giesel. Fünf fotografische Serien.

2014 Braunschweig, Museum für Photographie: Schöne Neue BRD? Autorenfotografie in den 1980erJahren (Gruppenausstellung)

2015 Braunschweig, Museum für Photographie: Das regionale Gedächtnis (Gruppenausstellung)

Bub, Dieter (2012): Reise an die Schmerzgrenze. In: SUPERillu (44), S. 14–17.

Dahl, Günter; Giesel, Joachim (1983): Kurz vor der Schmerzgrenze. In: Stern (30), S. 20–34.

Deutsche Welle (2013): Grenzgeschichten-Von Schutschur nach Mödlareuth. Deutsche Welle (www.dw.com). Online verfügbar unter https://www.dw.com/de/grenzgeschichten-von-schutschur-nach-m%C3%B6dlareuth/a-17075885 , zuletzt geprüft am 30.04.2022.

mlg (2012): Bilder von der „Schmerzgrenze“. Hannover-Fotograf reist in die Vergangenheit. In: NeuePresse, 28.09.2012, S. 27.

Museum für Photographie (Hg.) (2014): Schöne Neue BRD? Autorenfotografie der 1980er Jahre. Online verfügbar unter http://www.photomuseum.de/schone-neue-brd/, zuletzt geprüft am30.04.2022.

Museum für Photographie (Hg.) (2015): Das regionale Gedächtnis. Grenzland-Niemandsland. Joachim Giesel. Online verfügbar unter http://dasregionalegedaechtnis.de/grenzland-niemandsland/, zuletzt geprüft am 30.04.2022

o.A. (2012): Grenzgeschichten. In: Photo Presse 67 (20).

o.A. (2004): Giesel-Fotografien in der Handwerksform. In: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 21.09.2004, o.S.

Parak, Gisela (Hg.) (2014): Schöne neue BRD? Autorenfotografie der 1980er Jahre. Braunschweig: Museum für Photographie Braunschweig.