Vorstädte

Joachim Giesel ist bereits ein erfahrener Berufsfotograf mit Meisterbrief im Handwerk der Fotografie, als er sich 1980 dazu entschließt, an der Fachhochschule Dortmund das Diplom für Fotografie abzulegen. Seine Abschlussarbeit trägt den Titel Vorstädte und umfasst 63 Schwarz-Weiß-Fotografien, die von einem Ringbuch aus schwarzem Kartonpapier mit eigenem Text und Bildmaterial begleitet werden, in dem er Idee und Herangehensweise seines Projekts erläutert.

Ein kritischer Artikel des Architekten und Städteplaners Gerhardt Laage in der Wochenzeitung DIE ZEIT inspiriert Giesel zu seiner dokumentarischen Serie. Diese bildet die triste Realität ungezählter bundesdeutschen Vorstadtsiedlungen in den 1980er Jahren ab und dokumentiert eine städtebauliche Entwicklung, welche erstaunliche Parallelen zu der in der DDR aufweist. Unter der Maxime „Urbanität durch Dichte“ entstehen in Westdeutschland in den 1960er Jahren die ersten Großwohnsiedlungen. Doch das anfänglich gepriesene Konzept der verdichteten Stadt erfährt schnell Kritik: unzureichende Wohnverhältnisse, die eintönige Bebauung aus Beton und die kommunikationsarme Wohnatmosphäre führen zu wachsender Unzufriedenheit. Giesels Fotografien von Laatzen, Wülfel und Bemerode in Hannover, den Außenbezirken von Wolfsburg und Braunschweig sowie Bremen-Vahr verdeutlichen dieses Scheitern der verdichteten Stadt. Anstelle von Lebensqualität und sozialer Kommunikation zeichnet seine Diplomarbeit ein Bild von Anonymität und Monotonie und spiegelt so die trostlose Realität vieler Bewohner⁎innen der Großwohnsiedlungen wider.

Der Fotograf zeigt die Wohnsilos in seiner Serie ganz bewusst ohne einen einzigen Menschen. In seiner Diplomarbeit Vorstädte erklärt er: „Ich habe bewusst den Menschen in meinen Bildern weggelassen, sodass der Blick konzentriert werden kann auf das rein Bauliche, die Fassaden. Oder auf die geringen Beweise menschlichen Daseins, wie Auto, Bank, Mülltonne oder Campingwagen”.

Mit seiner Arbeit Vorstädte als ein fotografischer Kommentar zur städtebaulichen Situation in der Bundesrepublik reagiert Giesel auf einen aktuellen gesellschaftlichen Diskurs und positioniert sich so als sozialkritischer Fotograf.

 

JL