„Tief im Westen, wo die Sonne verstaubt, ist es besser, viel besser als man glaubt.“ Es ist das ungeschönte Bild von einem staubigen, aber lebenswerten Westen, das Herbert Grönemeyer 1984 in seiner Hymne Bochum auf seine Heimatstadt besingt. Auch wenn man selbst nicht aus dem Ruhrpott stammt, löst das Lied bei vielen Deutschen das Gefühl von Heimatverbundenheit aus, was es zu einem überregionalen Hit werden lässt. Grönemeyer räumt mit Vorurteilen auf und erklärt die Unvollkommenheit seiner Stadt zu ihrer positiven Identität: „Du bist keine Schönheit, vor Arbeit ganz grau, liebst dich ohne Schminke, bist ne ehrliche Haut.“ Tief im Westen ist auch Joachim Giesels Heimat – hier finden sein privates Leben und professionelles Schaffen statt. Doch welches Deutschlandbild zeichnet sein fotografisches Werk, das seinen Höhepunkt in den 1970/80er Jahren erlebt? Zwei Dekaden, in denen politisch, gesellschaftlich und technologisch so viel passiert. Denkt man an die Bundesrepublik in dieser Zeit, so denkt man an die Bonner Republik, an die Soziale Marktwirtschaft und an eine Wohlstandsgesellschaft. Doch auch an das Ende des Wirtschaftswachstums, ansteigende Arbeitslosenzahlen, an die Ölkrise und das Sonntagsfahrverbot. Es wird das BAföG eingeführt, „wir“ gewinnen die Fußball-Weltmeisterschaft im eigenen Land, Disco und Schlaghosen schwappen aus den USA herüber. Der erste VW-Golf läuft vom Band, die Nachrichten berichten vom Terror der RAF, vom NATO-Doppelbeschluss sowie von den Demonstrationen dagegen. Im Fernsehen läuft Tatort und die drei öffentlichen TV-Sender werden um private Sender wie RTL und SAT.1 erweitert. Die Umweltbewegung mobilisiert Alt und Jung, die Tschernobyl-Katastrophe mündet in Anti-Atomkraftwerk-Protesten und es gründet sich eine Partei, die sich den Umweltschutz zum Ziel macht. Innovationen, wie die Spiegelreflexkamera mit Autofokus oder der Personal Computer, stehen politischen Krisen gegenüber. Golfkrieg, Kalter Krieg, AIDS-Krise. Diese Diversität einer bewegten Epoche spiegelt sich in Giesels Werk wider. Deutlich wird dies insbesondere in seinen Werbe- und Pressefotografien, aber auch in den Aufträgen, die in seinem Studio, im Rahmen seiner bildjournalistischen Tätigkeit oder freier Fotowettbewerbe entstehen. Giesels Arbeit zeigt das Leben im Westen zwischen Arbeit und Tradition, Wohlstand und Freizeit, Hannover und Mallorca. Der Fotograf inszeniert dabei sowohl das Normative als auch das Absurde des deutschen Alltags. Sein menschlicher Blick gilt skurrilen Details, die mit Stereotypen des deutschen Spießbürgertums spielen. Gleichwohl schwingt in seinen Motiven eine Leichtigkeit mit, die es den Betrachtenden ermöglicht, sich im Dargestellten wiederzufinden oder zu identifizieren. Heute schwelgt man angesichts der Zeitdokumente von einst in Nostalgie.
Marietta Mann