Joachim Giesel, Porträt Rudolf Augstein (aus der Serie Photo-Portraits aus Hannover), Hamburg, 1990.
Der Schriftzug „Sagen, was ist“ empfängt in großen Buchstaben jeden, der das SPIEGEL-Gebäude in der Hamburger Hafencity betritt. Unter dem Zitat ist die Signatur von Rudolf Augstein angebracht, der das Nachrichtenmagazin nur drei Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Hannover gründet. Mit seiner Initiative, mittels eines Politmagazins den Menschen die Wahrheit über aktuelle Geschehnisse zu vermitteln, leistet er nach Jahren einer gleichgeschalteten Presse im Nationalsozialismus einen elementaren Beitrag für den Prozess der Demokratisierung im Nachkriegsdeutschland. Der SPIEGEL, eines der ersten unabhängigen Nachrichtenmagazine in der Bundesrepublik, setzt sich bis heute kritisch mit den Diskursen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft auseinander. Durchaus ähnlich formuliert Joachim Giesel als Fotograf seinen Anspruch von der Darstellung der Wirklichkeit, indem er Augsteins Satz adaptiert: Er will durch das Medium der Fotografie „zeigen, was ist“. 1990 hat Giesel einen Termin bei dem Verleger, um ihn für den Bildband Photo-Portraits aus Hannover zu fotografieren. Bereits vorher weiß er, wie er ihn inszenieren möchte – „selbstverständlich mit einem Spiegel“. Da in Augsteins Büro jedoch keiner vorhanden ist, wird kurzerhand ein Spiegel in der Herrentoilette der Redaktion abmontiert. Mit dem Rücken zum Fotografen gewandt, richtet Augstein den Blick in den Spiegel. Durch die Reflexion ist sein Gesicht zu sehen, woraus ein unauflösliches Wechselspiel der Blicke, des gegenseitigen Betrachtens und Betrachtetwerdens entsteht. Wie einen Verweis auf seinen Beruf hält er ein SPIEGEL-Magazin in der Hand – der SPIEGEL im Spiegel. Es handelt sich um die Ausgabe vom 6. Mai 1990, die unter dem Titel DDR vor der Marktwirtschaft. Ein Volk in Panik erschien. Mehrfach äußert sich Augstein zu den Entwicklungen der Wiedervereinigung, wobei er sich stets als Verfechter eines geeinten Deutschlands positioniert.
Enya Elinor Felix