Joachim Giesel, Porträt Henri Nannen (aus der Serie Photo-Portraits aus Hannover), Emden, Juni 1989.
Henri Nannen ist einer der bedeutendsten Journalisten, Herausgeber, Mäzene und Sammler der Bundesrepublik gewesen. Nachdem sich seit den 1970er Jahren Hinweise auf seine Vergangenheit im Nationalsozialismus finden, deckt der NDR 2022 auf, daß Nannen als Kriegsberichter für die SS-Propaganda-Einheit Unternehmen Südstern in Italien offensichtlich eine wesentliche Rolle spielte. Nachdem sich 1983 herausstellt, daß es sich bei den sogenannten Hitler-Tagebüchern, die der Stern veröffentlicht hat, um eine Fälschung handelt, zieht sich Nannen zurück. Mit seiner Frau Eske stiftet er zu seinem 70. Geburtstag der Stadt Emden seine Sammlung, die vornehmlich aus Gemälden und Skulpturen des Expressionismus besteht. Die dafür erbaute Kunsthalle eröffnet 1986, wo ihn Giesel im Juni 1989 photographiert. Lässig gekleidet, mit einem Ausstellungskatalog unterm Arm, steht der Sammler im White Cube und blickt in Giesels Mittelformatkamera. Mit einem Mal prallen Nannens Vergangenheit und Sammlerleidenschaft für die im Nationalsozialismus als „entartet“ diffamierte Moderne auf verstörende Weise aufeinander. Nannens Schatten fällt auf eine Kleine italienische Landschaft (1938) des gebürtigen Leipziger Max Beckmann, der 1937 nach Amsterdam emigriert, nachdem seine Werke in der Ausstellung Entartete Kunst gezeigt wurden. Während zu Nannens Linken Beckmanns Bildnis Quappi im grünen Jumper (1948) hängt, ist hinter seiner Schulter ein Ausschnitt der Tiller-Girls (vor 1927) von Karl Hofer zu erkennen, dessen Kunst ebenfalls als „entartet“ galt. Posthum wird Nannen von seiner Sammlertätigkeit eingeholt, nicht zuletzt weil sich die Frage nach der Provenienz der überwiegend in den 1970/80er Jahren zusammengestellten Sammlung stellt. Vor dem Hintergrund führt die Kunsthalle Emden ein Forschungsprojekt durch, das die Provenienzen von zwischen 1933 und 1945 entstandenen Werken rekonstruiert. Wie so viele Frauen und Männer der gesellschaftlichen Elite macht Nannen ungeachtet seiner Vergangenheit zwischen 1933 und 1945 im Nachkriegsdeutschland Karriere – ein Phänomen, daß bis weit in die 1970er Jahre oft verschwiegen, beschönigt oder geleugnet wird. Nannen bekennt sich 1979: „Ich habe gewusst, dass damals im Namen Deutschlands wehrlose Menschen vernichtet wurden, wie man Ungeziefer vernichtet. […] Ja, ich wusste es, und ich war zu feige, mich dagegen aufzulehnen.“
Martin Schieder