Joachim Giesel, An der Leine freie Beine, Hannover, 1970.
An der Leine freie Beine! Wir sind im Sommer 1970, die Uferpromenade in Hannover ist voller Menschen, mitten unter ihnen der Bildjournalist Joachim Giesel. Am Hohen Ufer stehen mehrere junge Frauen sowie ein Mann auf dem Sockel der Plastik Mann mit Pferd (1957) von Hermann Scheuernstuhl; noch heute sind einige seiner Werke aus der NS-Zeit in Hannover zu sehen. Die Menschen auf dem Sockel und die Menge um sie herum halten Schilder mit Wortspielen – „Maxi nieder, Mini komm wieder“ – in die Höhe. Revolution liegt in der Luft! Der Minirock, seit seiner Popularisierung in den 1960er Jahren ein Symbol für weibliche Selbstbestimmung, avanciert zum Attribut feministischer Proteste; in München findet 1970 ebenfalls eine Aktion für das Kleidungsstück statt. Bei der von Giesel dokumentierten Szene handelt es sich um einen Wettbewerb für den kürzesten Mini. Um die Länge der Röcke zu vermessen, hat der Veranstalter des Flohmarktes, Reinhard Schamuhn, seines Zeichens Aktions-Künstler, eigens einen Zollstock in der Hosentasche parat. Die Gewinnerin erhält eine Rose! Dass bei einer Aktion, die emanzipatorische Absichten zu verfolgen scheint, ein Mann die Rocklänge von Frauen misst, wirkt aus heutiger Sicht paradox. Mit der Fotografie dokumentiert Giesel den Minirock als Instrument der Ermächtigung sowie als Symbol der sexuellen Befreiung und Unabhängigkeit der modernen Frau der 1970er Jahre. Gleichzeitig hält der Blickwinkel, aus dem er – von unten – fotografiert, auf entlarvende Weise den des Publikums fest.
Lea Weiß