Grenzland–Niemandsland

Viele glauben, das Leben an der Grenze zur DDR sei ganz normal. Wie sieht dieses Leben eigentlich aus, die Teilung Deutschlands durch Gitter und Todesstreifen stets vor Augen?“, fragt der Journalist Günter Dahl in seinem Beitrag Kurz vor der Schmerzgrenze, der 1983 im Stern erscheint. Dieser ist mit acht Fotografien von Joachim Giesel illustriert, der zwischen 1965 und 1989 regelmäßig das sogenannte „Zonenrandgebiet“ entlang der „Demarkationslinie“ bereist, wie diese am 26. Mai 1952 von der DDR benannt wird, um eine weitere Massenflucht in den Westen zu verhindern. Giesel fotografiert überwiegend mit einer eigens konstruierten 18×24-Großformatkamera, die eine besonders hohe Auflösung ermöglicht. Mit seiner aus über 1.000 Motiven im überwiegend mittel- und großformatigen Diapositiv bestehenden Langzeitdokumentation Grenzland–Niemandsland entsteht ein zeithistorisches Dokument der deutsch-deutschen Teilung, in der aus westdeutscher Sicht der 1.393 Kilometer lange „Todesstreifen“ von Selmsdorf bei Lübeck bis Gutenfürst im Vogtland festgehalten wird. Im Gegensatz zu anderen Fotografen interessieren Giesel dabei weniger die martialischen Sperranlagen des „antifaschistischen Schutzwalls“ mit seinen Wachtürmen, Stacheldrähten und Selbstschussanlagen, der annähernd 900 Menschen das Leben kostete, als vielmehr die Entleerung und Verödung einst besiedelter und bewirtschafteter Gebiete. Neben romantischen Landschaften zeigen seine Fotografien verfallene Bauernhöfe, Felder und Äcker, die von der Natur zurückerobert werden, gesperrte Wege und Straßen, die in Sackgassen enden, stillgelegte Gleise und Bahnhöfe, an denen kein Zug mehr hält, Fährhäfen, von denen keine Boote mehr ablegen, Grenzübergänge, die keiner überqueren darf und Warnschilder, die keiner liest. Es mutet geradezu paradox an, doch in seinen Grenzlandschaften erscheint die vierzig Jahre lang währende Teilung des Landes, durch die Menschen, Familien und Dorfgemeinschaften auseinandergerissen wurden, gleichsam als Idyll. Doch es ist „nur für Fremde idyllisch“. In Kaiserwinkel etwa überqueren weiße Gänse die Straße, die einst nach Jahrstedt weiterführte und nun durch den Grenzzaun gesperrt ist – nur wenig weiter wurde 1961 mit dem Journalisten Kurt Lichtenstein der erste Mensch von DDR–Grenztruppen nach dem Mauerbau erschossen. Bewusst verzichtet Giesel, der sonst den Menschen in den Mittelpunkt seiner Arbeiten stellt, hier auf dessen Anwesenheit. In seinem Niemandsland scheinen keine Menschen mehr zu leben. 2012 wird Giesel zusammen mit Dieter Bub und einem Kamerateam des NDR noch einmal dieselben Orte aufsuchen, um ihre Transformationen seit der Grenzöffnung zu dokumentieren. Im Rahmen dieses Roadmovies, der eine Zeitreise in die Vergangenheit des wiedervereinigten Deutschlands ist, entsteht eine Chronologie des „Zonenrandgebiets“ von den 1960er Jahren bis in die Gegenwart. Zugleich ist Grenzland–Niemandsland ein bedeutender Beitrag der deutschen Autorenfotografie, der aus einer subjektiven Perspektive die Geschichte eines geteilten Landes und seiner Menschen erzählt.

Rickie Lynne Giesel / Martin Schieder