Vom 26. September bis 5. Oktober 1991 reisen die fünf Hannoveraner Photographen Peter Gauditz, Magdalena Tooren-Wolff, Volker Uphoff, Manfred Zimmermann und Joachim Giesel vom Forum Photographie – Design nach Moskau und Sankt Petersburg. Sie unternehmen ihre Reise in einem historischen Moment – vier Wochen nach dem sogenannten August-Putsch reaktionärer Kräfte gegen den Präsidenten Michail Gorbatschow, der mit seiner Perestroika die Sowjetunion politisch, gesellschaftlich und ökonomisch öffnen will und der deutschen Wiedervereinigung zugestimmt hat. In Moskau und Sankt Petersburg werden sie u.a. empfangen von ihren Kollegen Alexander Koksharov aus Sankt Petersburg, Vladimir Makarov (IMA-Press) und Evgeny Matveev aus Moskau sowie Vladimir Egorow aus Ivanovo. Bei dieser Reise handelt es sich um einen Gegenbesuch auf eine Visite sowjetischer Photographen, die im Mai 1991 auf Initiative Giesels in Hannover gewesen sind und im Juni in einer Filiale der Dresdner Bank ihre Arbeiten anläßlich der 750-Jahre Feier der Stadt unter dem Titel Blende auf – Hannover aus Moskauer Sicht präsentiert haben. Die kulturpolitische Initiative wird u.a. durch die Stadt Hannover, das Land Niedersachsen, die Inkom Bank in Moskau sowie die Moskauer Photoagentur IMA-Press gefördert. Nach ihrer Rückkehr aus der Sowjetunion stellen die Hannoveraner ihrerseits ihre Augenblicke am Wegesrand. Schnappschüsse im Vorübergehen in der Dresdner Bank (13.–27. November 1991) aus. Einem Bericht der Pressefrau Christina Förster läßt sich entnehmen, wie die Photographen während ihrer Reise in verschiedenen Rollen und Funktionen auftreten – als Touristen, Zeitzeugen, Lobbyisten sowie als Kulturvermittler. Auf den ersten Blick absolvieren sie in Moskau ein typisches Touristenprogramm – Bolschoi, Kreml, Lenin-Mausoleum, Staatszirkus, Fernsehturm etc. In Sankt Petersburg besucht man die Eremitage und eine Ballett-Akademie. Die Gruppe ist privilegiert, wird an allen Warteschlangen vorbei zu den historischen Orten geführt, speist und trinkt vom Feinsten – der „Tisch [ist] mit Kaviar, Wodka, Sekt, Salaten und Fleisch gedeckt“. Zugleich erlebt sie das Elend der Russen, welche unter der Versorgungskrise leiden. Höhepunkt ist ihre Ausstellung Hannoversche Fotografen (28. September–5. Oktober) in den Räumen des Staatlichen Kulturfonds nicht weit vom Roten Platz. Groß ist das Interesse von sowjetischer Seite – weniger an den Exponaten als am professionellen Arbeiten in der Industrie-, Mode-, Werbefotografie sowie im Life-Style: „Alle sind neugierig darauf, wie Marktwirtschaft funktioniert. Werbung, die große Unbekannte, ist Thema Nummer Eins. Wir sind für sie Botschafter der schillernden aufregenden Westwelt“. Wie Giesel die Reise für sein networking nutzt, verraten die Visitenkarten, die er in einer leeren Hülle eines sowjetischen Reisepasses steckt. Der Fokus seines photographischen Interesses liegt auf dem Alltagsleben einer Gesellschaft im Umbruch, auf Theater und Ballett sowie in besonderer Weise auf (gestürzten) Denkmälern.
Martin Schieder