Joachim Giesel ist bereits ein erfahrener Berufsfotograf mit Meisterbrief im Handwerk der Fotografie, als er sich 1980 dazu entscheidet, an der Fachhochschule Dortmund das Diplom für Fotografie zu machen. Seine Abschlussarbeit trägt den Titel Vorstädte und umfasst 63 Schwarz-Weiß-Fotografien. Sie wird von einem Ringbuch aus schwarzem Kartonpapier mit eigenem Text- und Bildmaterial begleitet, in welchem er die Idee und Herangehensweise seines Projekts erläutert. Ein kritischer Artikel des Architekten und Stadtplaners Gerhardt Laage in der Wochenzeitung DIE ZEIT hat Giesel zu seiner Dokumentation inspiriert. Diese bildet die triste Realität ungezählter bundesdeutscher Vorstadtsiedlungen in den 1980er Jahren ab und dokumentiert eine städtebauliche Entwicklung, welche erstaunliche Parallelen zu der in der DDR aufweist. Tatsächlich stehen in den Nachkriegsjahren beide deutschen Staaten vor der Herausforderung, eine gravierende Wohnungsnot zu überwinden. Unter der Maxime „Urbanität durch Dichte“ entstehen im Westen seit den 1960er Jahren, im Rahmen des Sozialen Wohnungsbaus, erste Großwohnsiedlungen. Durch ihre einfache und kostengünstige Modulbauweise bieten sie für tausende Familien Wohnraum auf wenig Fläche. Die Blöcke versprechen modernes Wohnen mit Zentralheizung, Fahrstuhl und eingebauter Waschmaschine und stoßen zunächst auf breiten Zuspruch in der Bevölkerung. Doch das anfänglich gepriesene Konzept der verdichteten Stadt erfährt bald Kritik: unzureichende Wohnverhältnisse, die eintönige Bebauung aus Beton und eine kommunikationsarme Wohnatmosphäre führen zu wachsender Unzufriedenheit. Bereits 1965 warnt der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich in seinem Buch Die Unwirtlichkeit der Städte vor den negativen Folgen einer „bloß agglomerierten Stadt“. Giesels Arbeiten visualisieren die von Mitscherlich beschriebene „Unwirtlichkeit“ der neuen Wohngebiete. Seine Fotografien von Laatzen, Wülfel und Bemerode in Hannover, den Außenbezirken von Wolfsburg und Braunschweig sowie Bremen-Vahr verdeutlichen das Scheitern der verdichteten Stadt. Anstelle von Lebensqualität und sozialer Kommunikation zeichnet seine Diplomarbeit ein Bild von Anonymität und Monotonie und spiegelt die trostlose Realität vieler Bewohner*innen der Großwohnsiedlungen wider. Mit seinem fotografischen Kommentar zur städtebaulichen Situation in der Bundesrepublik reagiert Giesel auf einen aktuellen gesellschaftlichen Diskurs und positioniert sich so als sozialkritischer Fotograf. Zur selben Zeit entsteht in der DDR mit der Dokumentation Stadtbilder (1979-1985) des Fotografen Ulrich Wüst eine ähnliche Arbeit. Während Giesel sich ausschließlich mit den urbanen Randgebieten befasst, zeigt Wüst die ostdeutsche Realität zwischen marodem Altbau und seriellem Plattenbau. Unwissentlich führen Giesels Vorstädte und Wüsts Stadtbilder einen deutsch-deutschen Dialog zum städtebaulichen Diskurs ihrer Zeit, in dem beide einen kritischen Blick auf die sterile Wohnarchitektur ihrer Gegenwart und Umgebung werfen.
Jule Lang